Aufgewacht – wenn Kunst beginnt, hinzusehen

Aufgewacht – wenn Kunst beginnt, hinzusehen

Es gibt Momente, in denen Kunst nicht nur Ausdruck ist, sondern ein Spiegel. Momente, in denen Farben, Formen und Gesichter das sichtbar machen, was lange im Dunkeln lag.

„Aufgewacht“ ist genau so ein Werk. Ein Porträt, das eine Geschichte trägt – eine, die tief berührt, aufrüttelt und Mut macht, nicht länger wegzusehen.

 

Die Geschichte hinter dem Bild

„Ich habe lange weggeschaut“, erzählt die Auftraggeberin.

Geschichten, die sie kannte, erschienen ihr weit weg – abstrakt, fast wie etwas, das anderen passiert. Doch irgendwann begann sie zu spüren, dass auch in ihrer eigenen Familiengeschichte Schatten lagen. Schatten, die bislang keinen Namen hatten.

Ihre Großmutter hatte nie viel über ihre Vergangenheit gesprochen. Doch zwischen den Zeilen, in unausgesprochenen Andeutungen und Momenten des Schweigens, begann ein neues Verständnis zu wachsen: Sie war eine von vielen Frauen, die in Kriegszeiten unsägliches Leid erfahren mussten – Frauen, die man zynisch „Trostfrauen“ nannte.

„Zu begreifen, dass meine eigene Familie Teil dieser Geschichte sein könnte, war ein Schock. Aber auch ein Moment des Erwachens“, sagt sie.

Dieser Moment wurde zu „Aufgewacht“ – zu einem Bild, das den Übergang vom Schweigen zum Sprechen, vom Wegsehen zum Hinschauen darstellt.

 

 

Zwei Hälften, ein Erwachen

Das Porträt zeigt eine Frau frontal, mit direktem Blick. Eine Hälfte ihres Gesichtes liegt im Schatten – ruhig, dunkel, fast geheimnisvoll. Die andere Hälfte leuchtet in kräftigen, lebendigen Farben: Pink, Lila, Türkis.

 

 

Die Dunkelheit steht für das Verdrängte, für all die Geschichten, die nie erzählt wurden. Für Schmerz, Scham und Schweigen, das Generationen überdauert hat.

Die Farben dagegen symbolisieren Erkenntnis, Mut und die Kraft, Dinge zu benennen.

Die Frau auf dem Bild ist wach. Ihr Blick ist klar, entschlossen, fast herausfordernd. Sie steht stellvertretend für all jene, die begonnen haben, die Augen zu öffnen – für Unrecht, für strukturelle Gewalt, für das Leid, das Frauen seit Jahrhunderten erfahren.

Sie ist nicht Opfer, sondern Zeugin. Nicht gebrochen, sondern stark.

 

 

Entstehung & Komposition

„Aufgewacht“ war eine Auftragsarbeit – doch sie hat mich als Künstlerin tief bewegt.

Ich wollte nicht einfach ein Porträt malen, sondern ein Gefühl.

Die Linie zwischen Licht und Schatten sollte spürbar, nicht nur sichtbar sein.

Also begann ich mit einer neutralen Grundierung und arbeitete mich schichtweise vor – erst die dunkle Hälfte, matt und zurückhaltend, dann die helle, in der sich die Farben förmlich explodierend ihren Weg bahnten.

 

 

Locken rahmen das Gesicht, als Symbol für Lebendigkeit und Individualität.

Die Übergänge zwischen Dunkelheit und Farbe sind bewusst unscharf – denn Erwachen ist kein klarer Schnitt. Es ist ein Prozess. Ein Ringen mit der eigenen Wahrnehmung.

Die Farbe steht hier nicht nur für Ästhetik, sondern für Bewusstsein. Für das Sehen. Für das Begreifen.

 

 

Vom Schweigen zum Ausdruck

Beim Malen habe ich gespürt, wie viel emotionale Spannung in diesem Werk steckt.

Es ist kein lautes Bild – aber eines, das in der Stille Kraft entfaltet.

Wenn man ihm gegenübersteht, spürt man diese Dualität: Trauer und Hoffnung, Schmerz und Stärke, Dunkelheit und Licht.

Die Auftraggeberin sagte später, sie habe sich in diesem Bild „erkannt“ – nicht im äußeren Sinn, sondern in der inneren Bewegung, die sie selbst erlebt hat.

Das war der Moment, in dem mir klar wurde: „Aufgewacht“ ist mehr als ein Porträt. Es ist eine Haltung.

Eine Einladung, sich mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen.

Eine Erinnerung daran, dass Wegschauen keine Option mehr ist.

 

 

Warum „Aufgewacht“ mehr ist als Kunst

Kunst kann nicht ungeschehen machen, was geschehen ist.

Aber sie kann sichtbar machen.

Sie kann Fragen stellen, Diskussionen anstoßen, Bewusstsein schaffen – und damit Veränderung beginnen.

„Aufgewacht“ steht für all die Frauen, die keine Stimme hatten.

Für die Großmütter, die geschwiegen haben.

Für die Generationen, die erst jetzt beginnen, das Ausmaß zu verstehen.

Und für alle, die den Mut finden, nicht länger zu verdrängen.

Die leuchtende Hälfte des Gesichts trägt all diese Stimmen in sich – sie ist ein Symbol für Stärke, für Empathie, für das Erwachen einer neuen Bewusstheit.

Ein Aufruf, hinzusehen, zuzuhören und zu handeln.

 

 

Ein persönliches Fazit

Dieses Werk hat mich selbst verändert.

Ich habe beim Malen gespürt, dass Kunst dann ihre größte Wirkung entfaltet, wenn sie unbequem wird. Wenn sie uns zwingt, Fragen zu stellen – über uns, über unsere Geschichte, über das, was wir weitergeben.

„Aufgewacht“ ist kein leichtes Bild, aber ein notwendiges.

Es steht in der Reihe meiner Colorful Faces und doch hebt es sich ab – durch seine Tiefe, durch den ernsten Kern, durch das Erwachen, das in ihm steckt.

Und vielleicht ist genau das die Aufgabe von Kunst:

Nicht zu verschönern, sondern bewusst zu machen.

Nicht zu fliehen, sondern zu sehen.

Nicht zu schweigen – sondern aufzuwachen.

 

Eure Mellinski Sacherix